Mechanismen, Diagnostik & klinische Aspekte
Die Multifidus-Dysfunktion als Ursache chronischer Rückenschmerzen
Die gestörte neuromuskuläre Kontrolle als Ursache für die Entwicklung von chronischen Rückenschmerzen ist in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Forschung gerückt. Vor allem die dysfunktionale Kontrolle des Multifidus-Muskels ist bei Millionen von Betroffenen Hauptursache für die Entwicklung von chronischen Rückenschmerzen und der damit einhergehenden Beeinträchtigung der Lebensqualität.
Pathophysiologie der neuromuskulären Dysfunktion
Bei der neuromuskulären Dysfunktion (NMD) handelt es sich um eine Vielzahl von Störungen, die das Zusammenspiel von Nervensystem und Rückenmuskulatur beeinflussen. Diese Störungen der NMD können zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Stabilität und damit zu erheblichen Schmerzen führen. So spielt die gestörte neuromuskuläre Kontrolle des Multifidus-Muskels eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung von chronischen Rückenschmerzen (Chronic Low Back Pain, CLBP).
Musculus multifidus – wichtigster Stabilisator der lumbosakralen Wirbelsäule
Der Multifidus-Muskel ist ein tiefer Rückenmuskel, der wesentlich zur Stabilität der Lendenwirbelsäule beiträgt. Er wird aus tiefen, mittleren und oberflächlichen Fasernanteilen gebildet:
- Tiefe Fasern … verbinden direkt benachbarte Wirbelkörper untereinander und sind entscheidend für die segmentale Stabilität.
- Mittlere Fasern … überbrücken mehrere Wirbelsegmente und haben stabilisierende sowie bewegungsunterstützende Funktionen.
- Oberflächliche Fasern … sind die längsten Anteile der Muskulatur und tragen hauptsächlich zur Bewegung der Wirbelsäule bei, insbesondere im Rahmen der Streckung.
Neuromuskuläre Kontrolle, Reflexinhibition und arthrogene Muskelhemmung (AMI)
Die Stabilität der Wirbelsäule ist ein komplexes Zusammenspiel der passiven Strukturen (Wirbelkörper, Gelenke und Bänder), den aktiven Komponenten (Muskeln) sowie der sensomotorischen Kontrolle (Reflexe). Die sensomotorische Kontrolle ist essenziell für die Fähigkeit des Nervensystems, sensorische Informationen zu verarbeiten und entsprechende motorische Antworten zu erzeugen, um die Stabilität der Wirbelsäule sicherzustellen. Mechanorezeptoren in den Muskeln und Gelenken sind hierbei die zentralen Elemente, welche die Informationen über die Position und Bewegung der Wirbelsäule an das zentrale Nervensystem weitergeben.
Bei der arthrogenen Muskelhemmung (Arthrogenic Muscle Inhibition, AMI) handelt es sich um einen Mechanismus, der eine wichtige Rolle bei der neuromuskulären Dysfunktion spielt. Eine AMI entwickelt sich, wenn sensorische Veränderungen in den Gelenken zu einer Hemmung der Muskelaktivität führen. Dies kann durch Verletzungen aber auch durch degenerative Veränderungen in den Gelenken verursacht werden. Die Reflexinhibition (RI) ist ein physiologischer Mechanismus, bei dem die Aktivität eines Muskels durch sensorische Reize, die von Gelenken oder anderen Strukturen ausgehen, gehemmt wird. Dieser Mechanismus spielt eine wichtige Rolle bei der Regulation der Muskelaktivität und dient als Schutzmechanismus, um weitere Schäden an den verletzten oder degenerativ veränderten Gelenken zu verhindern. In Summe führt dies zu einer verminderten Aktivierung der stabilisierenden Multifidus-Muskeln. Im Ergebnis kann sich ein (Mikro-)Instabilität der Wirbelsäule entwickeln. Studien haben gezeigt, dass die AMI in Kombination mit der RI zu einer Verringerung der Muskelkraft und -ausdauer sowie zu Muskelatrophie führen kann.
Multifidus-Dysfunktion
Die Multifidus-Dysfunktion ist eine spezifische Form des neuromuskulären Kontrollverlustes, welche mit chronischen Rückenschmerzen assoziiert ist. Bei einer Dysfunktion des Multifidus-Muskels kommt es zu einer verminderten Aktivierung und Kontrolle dieses Muskels mit konsekutiver Instabilität der Wirbelsäule. Der wird häufig durch eine AMI verursacht. Folge ist die verminderte Rekrutierung der motorischen Einheiten des Multifidus-Muskels, was zu einer verminderten Muskelkraft und -ausdauer führt.
Sensorische Veränderungen in den Gelenken und Muskeln können zu einer gestörten neuromuskulären Kontrolle führen. Mechanorezeptoren in den Gelenken senden kontinuierlich Informationen über die Position und Bewegung der Wirbelsäule an das zentrale Nervensystem. Bei Schädigung dieser Rezeptoren, beispielsweise durch Verletzungen oder degenerative Prozesse, wird die sensorische Rückmeldung beeinträchtigt, was zu einer gestörten neuromuskulären Kontrolle und Aktivierung der Muskeln führt. Die verminderte Aktivierung des Multifidus-Muskels kann somit zur Muskelatrophie führen. Studien haben gezeigt, dass eine anhaltend gestörte Kontrolle des Multifidus-Muskels zu einer Atrophie der Muskelmasse und einer fettigen Infiltration führt. Dies beeinträchtigt die Fähigkeit des Muskels, die Wirbelsäule zu stabilisieren, und trägt zur Entstehung von chronischen Rückenschmerzen bei. Die Fettinfiltration kann darüber hinaus auch die mechanischen Eigenschaften des Muskels verändern und die Eigenschaften zur Kraftübertragung verringern. So zeigen Studien, dass eine Fehlfunktion des Multifidus mit einer Umwandlung der langsamen Typ-I-Muskelfasern in schnelle Typ-II-Muskelfasern einhergeht. Typ-II-Fasern sind weniger ausdauernd und ermüden schneller. Diese Veränderung beeinträchtigt die Fähigkeit des Multifidus-Muskels die Stabilität der Wirbelsäule langfristig zu gewährleisten.
Neuromuskuläre Kontrolle und chronische Rückenschmerzen
Schmerzen können einen signifikanten Einfluss auf die neuromuskuläre Kontrolle haben; und umgekehrt. Studien konnten zeigen, dass Schmerzen die motorische Rekrutierung und die Muskelaktivität verändern können. Bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen kann es zu einer verminderten Aktivierung des Multifidus und anderer stabilisierender Muskeln kommen, welches zu einer weiteren Verschlechterung der neuromuskulären Kontrolle führt. Diese Veränderungen können durch zentrale Sensibilisierung und eine Veränderung der sensorischen Rückmeldung verursacht werden.
Bei der zentralen Sensibilisierung handelt es sich um eine erhöhte Empfindlichkeit des zentralen Nervensystems auf sensorische Reize. Diese kann zu einer verstärkten Wahrnehmung von Schmerzen führen und die neuromuskuläre Kontrolle zusätzlich beeinträchtigen. Bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen kann die zentrale Sensibilisierung die Aktivierung des Multifidus-Muskels und anderer stabilisierender Muskeln verringern. Im Ergebnis führt dies zu einer Verschlechterung der neuromuskulären Kontrolle und einer erhöhten Anfälligkeit für weitere Verletzungen und beschleunigte Degeneration im Bereich der Wirbelsäule. Neben der zentralen Sensibilisierung kann die Neuroplastizität des zentralen Nervensystems zu Veränderungen führen, die einen neuromuskulären Kontrollverlust begünstigen. Diese Veränderungen können die motorische Rekrutierung und die Fähigkeit zur Stabilisierung der Wirbelsäule zusätzlich beeinflussen. Studien haben gezeigt, dass bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen Veränderungen in den neuronalen Netzwerken auftreten können, die die neuromuskuläre Kontrolle und die Stabilität der Wirbelsäule beeinträchtigen.
Klinische Aspekte und Diagnose der Multifidus-Dysfunktion
Die klinischen Implikationen einer Multifidus-Dysfunktion sind vielfältig und können zu erheblichen Einschränkungen im Alltag, vor allem aber zur signifikanten Verschlechterung der Lebensqualität führen. Patienten berichten häufig über belastungs- und positionsabhängige Rückenschmerzen, die durch alltägliche Aktivitäten wie Bücken, Heben oder längeres Sitzen provoziert und verschlimmert werden können. Diese nozizeptiven Schmerzen können dabei auch in die Gesäß- oder Oberschenkelregion ausstrahlen.
Die Diagnose einer Multifidus-Dysfunktion umfasst neben der gründlichen Anamnese vor allem die klinisch-neurologische Untersuchung sowie bildgebende Verfahren (Magnetresonanztomographie). Zu den klinischen Tests gehören: Prone Instability Test (PIT): Die segmentale Stabilität der Wirbelsäule wird bewertet, indem die Wirbel während einer Bauchlage gegeneinander belastet werden.
Multifidus Lift Test (MLT): Der Test provoziert die Aktivierung des Multifidus-Muskels unter Nutzung eines spezifischen Bewegungsmusters.
Pathologische Bewegungsmuster: Eine Bewertung, die auf abnormale Bewegungsmuster und die Fähigkeit zur stabilen Bewegung der Wirbelsäule abzielt.
Quellen
1. Vinicius Tieppo Francio, et al. Multifidus dysfunction and restorative neurostimulation: a scoping review. Pain Medicine, 2023, 24, 1341–1354.
2. International Association for the Study of Pain (IASP). IASP Terminology, 2017.
3. Hartvigsen J, et al. What low back pain is and why we need to pay attention. Lancet, 2018;391(10137):2356–2367.
4. Wu A, et al. Global low back pain prevalence and years lived with disability from 1990 to 2017: estimates from the Global Burden of Disease Study 2017. Ann Transl Med. 2020;8(6):299.